In einer neu gebauten Kita im Essener Stadtteil Altendorf spricht der SPD-Landtagsabgeordnete Frank Müller mit Miguel Espinar Colodrero über Bildungsgerechtigkeit, gesellschaftliche Verantwortung und die dramatische Lage in der frühkindlichen Bildung. Ein Gespräch über Haltung, Herkunft und Hoffnung – und darüber, warum wir Kita endlich als das begreifen müssen, was sie ist: der erste Bildungsort.


[Das Interview führte Miguel Espinar Colodrero]

„Ich war das einzige evangelische Kind – und das hat man gespürt“

Frank Müller kennt das Gefühl, anders zu sein – und nicht dazuzugehören. Schon früh, in einer katholischen Kita in Essen-Leithe, spürte er, dass seine Herkunft eine Rolle spielte. „Ich war das einzige evangelische Kind – und das hat man im Umgang gespürt. Später auf dem Gymnasium haben Lehrer meinen Eltern geraten, mich lieber von der Schule zu nehmen. Das sei alles zu viel, ich würde das Abitur nicht schaffen.“

Er hat es trotzdem geschafft – heute ist er Landtagsabgeordneter, Vorsitzender eines der größten freien Träger für Kinder- und Jugendarbeit im Ruhrgebiet (VKJ) und Sprecher der SPD in der Enquetekommission zur Chancengleichheit in der Bildung. „Diese Erfahrungen prägen mich bis heute. Und ich weiß: Noch immer erleben viele Kinder genau das Gleiche – weil sie aus einer Familie ohne akademischen Hintergrund kommen oder in einem Stadtteil wohnen, der mit Stigmata belegt ist.“

Kita ist Bildung – nicht „nur“ Betreuung

Frank Müller nimmt das Wort „Kitastrophe“ nicht leichtfertig in den Mund – aber er meint es ernst. „Wir haben es mit einer strukturellen Überforderung zu tun. Einrichtungen sind chronisch unterfinanziert, Rücklagen aufgebraucht, Personal fehlt. Und die Landesregierung tut so, als wäre alles in Ordnung.“ Besonders dramatisch sei die Lage durch die Vorfinanzierung der Tarifsteigerungen: „Träger müssen in Vorleistung gehen, obwohl sie wissen, dass das Geld erst nach einer inakzeptablen Verzögerung kommt.“

Für ihn ist klar: Kita ist kein Anhängsel des Bildungssystems, sondern dessen Fundament. „Wenn wir frühkindliche Bildung nicht ernst nehmen, verspielen wir Chancen – für die Kinder, für die Familien und für die Gesellschaft insgesamt.“ Dass viele Einrichtungen in NRW ihre Öffnungszeiten einschränken müssen oder Plätze gar nicht mehr vergeben können, sei eine Katastrophe mit Ansage.

„Viele Eltern glauben: Das kann gar nicht für uns sein“

Das Interview findet in einer neu eröffneten Kita des VKJ statt – dem „Kinderhaus Leuchtturm“ in Essen-Altendorf. Ein moderner, lichtdurchfluteter Bau mit viel Holz und Natur. Und doch sind viele Eltern beim ersten Besuch ungläubig. „Sie sagen: So etwas Schönes – das kann doch nicht für uns gebaut worden sein. Das macht betroffen“, so Müller.

Gerade in sogenannten „Brennpunktvierteln“ gehe es nicht nur um Betreuung, sondern um Teilhabe, Selbstwert und Perspektive. „Wenn ein Kind in zwanzig Jahren sagt: Ich war dabei, als diese Kita eröffnet wurde – dann wissen wir, dass es richtig war.“ Und das, so Müller, ist auch eine Frage der Haltung: „Wir müssen Menschen nicht kleinhalten, sondern ihnen zeigen, dass sie es wert sind.“

Kita-Politik am Limit: Fachkräfte, Verwaltung und Eigenanteile

Inhaltlich fordert Müller eine radikale Umsteuerung. Das derzeitige System sei nicht mehr tragfähig. Besonders kritisiert er:

  • die überbordende Bürokratie: „Kita-Leitungen verbringen mehr Zeit mit Anträgen und Sponsorensuche als mit pädagogischer Führung.“
  • die gekürzten Unterstützungsprogramme: „Das Kita-Helfer:innen-Programm war ein erster Schritt – wurde aber reduziert, statt ausgebaut.“
  • die verpflichtenden Eigenanteile: „Es ist nicht mehr erklärbar, warum Träger Geld mitbringen müssen, um eine staatliche Aufgabe zu erfüllen.“

Was es brauche? „Mehr Verlässlichkeit, mehr Personal, mehr administrative Entlastung – und vor allem: Vertrauen in die Fachkräfte.“

Ganztag, Grundschulzentren, Familienberatung: Die Systeme verbinden

Der Blick auf die Kita reicht für Müller nicht aus. „Es geht um Übergänge. Kita allein reicht nicht, wenn Grundschulen nicht anschließen können. Ganztag ist ein Schlüssel – aber er muss gut gemacht sein.“ Das Startchancen-Programm, Familiengrundschulzentren, OGS-Ausbau: „Das alles muss miteinander verzahnt werden – und nicht als isolierte Einzelmaßnahmen nebeneinander existieren.“

Müller kritisiert die Landesregierung für die mangelnde Strategie: „Was wir brauchen, ist ein Plan – kein Flickenteppich. Und ein klares Ziel: echte Teilhabe für alle Kinder, unabhängig von Herkunft, Wohnort oder sozialem Status.“

Digitalisierung: Bildung darf nicht am WLAN scheitern

Auch beim Thema Digitalisierung sieht Müller massive Gerechtigkeitslücken. „Während manche Kinder mit dem iPad lernen, sitzen andere vor dem Supermarkt im WLAN. Das ist Realität.“ Für ihn braucht es deshalb nicht nur Geräte, sondern auch Räume – z. B. in Form von echten Ganztagsschulen: „Study Halls, in denen Kinder lernen können – unabhängig von Zuhause.“

Er fordert:

  • digitale Infrastruktur in jeder Schule,
  • staatlich finanzierte Endgeräte,
  • Medienkompetenz als festen Bestandteil der Lehrpläne,
  • mehr Professionalisierung an Schulen: „Wir können nicht erwarten, dass Lehrkräfte auch noch IT-Fachleute sind. Schulen brauchen eigene Admins, multiprofessionelle Teams und Zeit für Fortbildung.“

Gebührenfrei heißt: Echte Teilhabe

Müller sagt deutlich: „Wir dürfen uns nicht mit halben Lösungen zufriedengeben. Bildung muss wirklich gebührenfrei sein.“ Dazu gehören für ihn:

  • Lernmittelfreiheit
  • Kostenloses Schulessen
  • Kostenloser Nahverkehr
  • Ausstattungspauschalen für alle Schüler:innen

„Es darf keinen Unterschied machen, ob Eltern sich kümmern können oder nicht. Teilhabe muss unabhängig vom Geldbeutel sein. Punkt.“

Was Wirtschaft tun kann? Perspektiven öffnen!

Zum Schluss spricht Miguel Espinar Colodrero als Landesvorsitzender der Wirtschaftsjunioren NRW über die Rolle von Wirtschaft und Unternehmertum. Frank Müller macht Mut: „Was ihr schon macht – das ist stark. Wenn junge Führungskräfte Bildung mitdenken, wenn ihr nicht nur Netzwerken, sondern auch Verantwortung übernehmt – dann ist das gelebtes Engagement.“

Und ganz konkret?

  • Mentoring: „Seid Mentor:innen für junge Talente, die sonst durchs Raster fallen.“
  • Chancen ermöglichen: „Nicht jede:r ist beim ersten Versuch perfekt – aber viele brauchen nur einen zweiten Anlauf.“
  • Verständnis zeigen: „Manchmal reicht es schon, Besprechungen so zu planen, dass Eltern nicht ausgeschlossen werden.“

Ein persönlicher Wunsch?

Wenn Frank Müller einen Wunsch frei hätte, sagt er: „Weniger Komplexität, mehr Beratung – und ein System, das sich nicht um sich selbst dreht, sondern um die Kinder.“

Dann lehnt er sich zurück, schaut auf die hellen Fenster des Kinderhauses Leuchtturm und sagt: „Vielleicht sind es nicht Gesetze, sondern Haltung, die am Ende den Unterschied machen.“


Bildrechte: Wirtschaftsjunioren Nordrhein-Westfalen